Mit dem Motorrad fahren

 

 

von Sigrid Dobat

 

 

 

Es klopft. Der Alte erschrickt.

 

Es klopft und nichts geschieht. Das ist ungewöhnlich, der Alte dreht sich zur Tür, seinen Platz am Vertiko verlässt er nicht. Er lehnt sich zurück, das Vertiko ist sein Halt. Wenn es klopft, muss die Tür aufgehen, sie muss schnell aufgehen, sofort nach dem Klopfen. So ist es richtig. Er weiß es, er kennt es. Manchmal geht die Tür schon auf, bevor das Klopfen kommt.

 

Jetzt ist er beunruhigt, seine Finger nesteln am Rand der runden Dose. Er will sie in die Schublade oben links in den Aufsatz des Vertikos schieben. Jetzt sind seine Finger unruhig, es hat geklopft. Die Dose stellt er auf den kleinen Tisch neben dem Bett. Das Bett, das Vertiko und zwei Stühle, mehr gibt es nicht in dem Raum. Und den Alten.

 

Er hat verstanden, es hat geklopft. Er nickt und geht mit kurzen Schritten auf die Tür zu, streckt sich und sagt höflich, denn er weiß sehr genau, was sich gehört: „Herein!“ Es klopft noch einmal, lauter jetzt, und lauter antwortet er höflich und etwas atemlos dem Klopfen: „Herein!“

 

 

 

Die Tür öffnet sich einen Spalt, ein Kopf schiebt sich in den Raum, eine junger Kopf. Dunkle Locken kräuseln sich, der Mund lächelt, die Augen gehen im Raum umher, schnell erfassend. „Opa, ich bin’s. Ich wollte dich besuchen!“ Der Alte staunt. Das kennt er nicht. Kurze schnelle Schritte zum Tisch, er greift nach der Dose, sucht den Deckel, auf dem „Morning Tea“ steht. Das weiß er, „Morning Tea“ muss auf dem Deckel stehen. Seine Augen suchen und plötzlich weiß er, was er mit der Dose machen will. Er schiebt sie in die obere Schublade links im Aufsatz des Vertikos. Das junge Gesicht ist freundlich, das spürt der Alte und weil er weiß, was sich gehört, zeigt seine Hand auf einen der Stühle: „Setzen Sie sich bitte!“

 

 

 

Der junge Mann kommt auf den Alten zu, breitet seine Arme aus und ruft, vielleicht ruft er etwas zu laut: „Opa, ich bin’s!“ Der Alte weicht zurück, er kann gut hören, hört alles, aber jetzt kommt jemand auf ihn zu, das kennt er nicht. „Ich räume auf, ich muss die Stifte anspitzen, wenn ich schreiben will, müssen sie angespitzt sein.“ „Klar doch, Opa, ich helfe dir“, forsch klingt die Stimme des jungen Mannes.

 

Sie sollten sich setzen, ich will aufräumen“, die Stimme des Alten klingt fest. Er will nicht, dass der junge Mann aufräumt. Das ist seine Arbeit. Trotzig neigt sich der Kopf des Alten, er schweigt.

 

Opa, ich bin’s doch!“ Der Alte schaut auf, sucht in dem jungen Gesicht, findet dunkle Locken, die hat er schon einmal gesehen, dunkle Locken, irgendwann. Tief schaut er in das runde Loch seiner Erinnerung, findet weit unten dunkle Locken, und im Wiedererkennen sagt er: „Ach ja, du bist es. Ich habe dich nicht erkannt.“

 

 

 

Ein leises Zischen flieht aus den Zähnen des jungen Mannes. Seine Augenlider neigen sich bei dem Geräusch, er wartet. Jetzt kann er warten. Der Alte hat ihn erkannt. So scheint es. Der Blick des Alten wandert im Gesicht des jungen Mannes herum. Es ist ihm, als messe er seine Gesichtszüge, den Abstand der Augen, die Breite des Mundes. Der junge Mann wird unruhig jetzt, der Blick des Alten macht ihn nervös. Die Wolle des Pullovers kratzt, er hat ihn für diesen Besuch angezogen, es ist nicht seiner, er wollte gut aussehen, seriös. Seine Finger schieben sich unter den Kragen, der viel zu eng am Hals liegt. Er muss etwas sagen, etwas muss aus dem Hals heraus. Zurechtgelegt hat er sich den Satz: “Mama lässt grüßen, sie kann selbst nicht kommen. Aber ich bin gekommen.“ Als er ihn ausspricht, nickt der Alte. „Sie hat gesagt, du sollst von früher erzählen, von alten Zeiten, als sie Kind war.“ Und weil seine Stimme den Satz nicht beendet hat, fügt er hinzu: "Vielleicht." Der Alte nickt wieder, aber er spricht nicht.

 

 

 

Der Blick des Alten forscht, er gleitet über das gelockte Gesicht, über den kratzenden Pullover zu den Schuhen. Neu. „Die hat Mama mir bezahlt.“ Der Alte sollte nicht denken, dass er so viel Geld hätte, neue Schuhe zu kaufen. Er ahnt nicht, dass der alte Mann nicht weiß, dass diese Schuhe teuer sind. Schuhe sind Schuhe für den alten Mann. Nur etwas bunt vielleicht, diese Schuhe. Das denkt er.

 

 

 

Der Junge will ablenken. „Erzähl schon!“, sagt er und erschrickt über die Forderung in seinem Satz. So geht das nicht, das hat er sich vorher überlegt. Weicher jetzt wiederholt er den Satz. "Erzähl schon." Als der Alte nur nickt, sagt er: „Mama hat gesagt, du sollst vom Motorrad erzählen. Von der alten Maschine, die immer repariert werden musste.“ Der Alte hört nichts vom Motorrad. „Mama?“ „Klar, Mama, deine Tochter!“ Der junge Mann ist sich sicher, jeder alte Mann hat eine Tochter und wiederholt: „Deine Tochter.“

 

 

 

Und in das runde Loch der Erinnerung fällt das Geräusch eines Motorrads. Das hat der Alte schon einmal gehört. Er steht auf. Der Junge sieht, wie der Alte zum Vertiko geht, in eine Dose hineingreift und einen Stift hoch hält. Er lacht: „Angespitzt!“

 

Opa, das Motorrad, erzähl davon!“

 

Der Alte hört kein Motorrad mehr, eben war es noch da.

 

Erzähl davon“, sagt der Alte und schaut in das junge Gesicht. Der junge Mann stutzt, das war nicht der Plan, der Alte soll erzählen. Aber das alte Gesicht schaut erwartungsvoll. „Erzähl davon!“ Jetzt kann er nicht anders.

 

Ich möchte auch eines haben, wie du, Opa! Mama sagt, du bist damit bis nach Italien gefahren. Weit weg, ganz im Süden, Opa!“ Jetzt sieht der Alte das Motorrad wieder. Unten liegt es, tief unterhalb des runden Loches. Und es fährt. Irgendwo, vielleicht in Italien. Er weiß, in Italien ist es warm, die Straße staubig. Es fährt in eine Sandwolke hinein. Irgendwo im runden Loch der Erinnerung. Und wo ist die Mama? Sie ist nicht da.

 

 

 

Der junge Mann sieht, dass die Augen des Alten wieder zurückkommen in das Zimmer mit dem Bett, dem Vertiko, dem Tisch und den Stühlen. Er steht auf, nimmt die Hand des Alten und zieht ihn zu einem der Stühle.

 

Ich muss aufräumen, Stifte anspitzen“, wehrt der Alte sich. „Klar Opa, das machst du später, ich weiß, dass du es allein machen willst.“ Der Alte will nicht sitzen, er sträubt sich, geht zurück zum Vertiko, räumt, schiebt hin und her, was auf dem Vertiko steht.

 

Der Junge stellt sich hinter ihn. „Opa, hast du Geld?“ Der Alte wird geschäftig. Er zieht an den Schubladen, öffnet Dosen, er lacht, denn er hat den Deckel gefunden in einer Lade, den „Morning Tea“-Deckel. Er lacht und hält den Deckel vor das Gesicht mit den dunklen Locken. Jetzt wird er ruhig, er kennt die dunklen Locken schon, irgendwo her. Und der Deckel ist wieder da.

 

Ich helfe dir suchen, Opa.“ Hastig klingt der Satz und die alte Hand streckt sich. Sie greift in die dunklen Locken und es schmerzt den jungen Mann. Die alte Hand ist unkontrolliert, sie greift, sie zerrt. „Opa, hast du Geld?“

 

Und tief unten im runden Loch der Erinnerung liegt es: das junge Gesicht, das Motorrad und das Geld. Doch er kann es nicht greifen, es liegt tief unten.

 

 

 

Aber der junge Mann sieht es, er findet die Dose oben auf dem Vertiko, hinter einer Schrankuhr, die viel zu groß ist für das Vertiko. Sie tickt, und als der junge Mann mit Daumen und Zeigefinger durch die Scheine blättert, kann er nicht verhindern, dass er den Rhythmus der Uhr aufnimmt.

 

Es reicht, es wird reichen für ein Motorrad, jedenfalls für ein gebrauchtes.

 

"Ich muss jetzt gehen, Opa."

 

Der Alte setzt sich auf einen Stuhl und schaut auf die Zimmertür, die sich eben geschlossen hat.

 

 

 

Es klopft. Und die Tür öffnet sich – sofort mit dem Klopfen. Das kennt der Alte und er erschrickt trotzdem. „Herr Meißner, hatten Sie Besuch?“ Der weiße Kittel dreht sich im Zimmer. Die Hände mit den Gummihandschuhen greifen nach den Dosen auf dem Vertiko. Sie greifen hinter die Uhr, sie kommen leer zurück. „Herr Meißner, hatten Sie Besuch?“ Die Stimme im weißen Kittel klingt vorwurfsvoll.

 

 

 

Der Alte sitzt auf dem Stuhl. Sein Kopf neigt sich, er schaut in das runde Loch. „Mein Enkel war hier.“

 

Herr Meißner, Sie haben keinen Enkel!“

 

Langsam hebt der Alte seinen Kopf, schaut sich um, schaut auf das Vertiko und den Tisch mit den zwei Stühlen. Er lächelt. Er lächelt in das Gesicht über dem weißen Kittel.

 

Doch, doch, mein Enkel fährt mit dem Motorrad. Er fährt in Italien, da sind die Straßen staubig.“

 

 

 

Jetzt lächelt auch das Gesicht über dem weißen Kittel und der Gummihandschuh streift leicht über die alte Wange. "Das ist wahr, Herr Meißner, in Italien sind die Straßen staubig."