Reisen mit Jungweber

 

Reinhard Großmann

 

 

Wenn es an jenem Nachmittag nicht so heftig geregnet hätte, wäre ich nie auf die Idee gekommen, ein ganzes Jahr auf Reisen zu gehen. Aber es goss wie aus Kübeln, da macht man keinen Verdauungsspaziergang. Also holte ich die Post aus dem Briefkasten und fand in einem großen Umschlag den Reiseprospekt des Omnibusunternehmens Jungweber. Ein dickes Buch, über 200 Seiten, das hätte ich normalerweise gleich im Container entsorgt. Aber, wie gesagt, es regnete, und da wollte ich einfach nur einmal hineinschauen. Schiffsreisen, Bäder-Reisen, Städtereisen, Fahrradtouren. Auf jeder Seite Bilder von Kirchen, Schlössern, Seen im strahlenden Sonnenschein, während bei mir der Regen an die Fensterscheiben prasselte. Am Ende eine Kalender-Übersicht von Januar („Kuraufenthalt in Kolberg“) bis Dezember („Jahresabschluss an Rhein und Mosel“). Da könnte ich also das ganze Jahr auf Reisen verbringen. Nach der Rückkehr und einer Pause von ein oder zwei Tagen - angefallene Post erledigen, Wäsche waschen, sich für die nächste Reise vorbereiten - könnte es weiter gehen. Warum eigentlich nicht? Ich war nie viel gereist. Jetzt könnte ich noch etwas erleben, was ich während der Jahre im Büro verpasst hatte. Und da war doch vor kurzem mein Erbonkel Gustav gestorben und hatte mir zu meiner Überraschung knapp hunderttausend Euro hinterlassen. Anscheinend war er auch immer zuhause geblieben und hatte das ganze Urlaubsgeld gespart. Da könnte ich ja auch für ihn das Versäumte nachholen.

 

 

Unter der Nummer von Jungweber meldete sich eine freundliche Frauenstimme. Wenn sie über meinen Anfrage erstaunt war, ließ sie es sich jedenfalls nicht merken, und schon zwei Tage später rief sie wieder an. „Wir haben Ihnen ein Angebot nach Ihren Wünschen zusammengestellt. Sie erhalten es per Post. Der Chef hat entschieden, dass wir Ihnen die Einbettzimmer-Zuschläge erlassen, sozusagen als Mengenrabatt. Wir sind auf dreiunddreißig Reisen gekommen, und die Kosten belaufen sich auf genau 36.489 Euro. Schauen Sie sich das Angebot in Ruhe an, und dann teilen Sie uns mit, ob Sie einverstanden sind.“

 

 

Es regnete nicht mehr, deshalb machte ich meine regelmäßigen Spaziergänge und nahm mir gar nicht die Zeit, das umfangreiche Papier von Jungweber zu studieren. „Die werden schon das Richtige ausgesucht haben“, dachte ich und teilte ihnen mit, dass ich das Angebot annehme.

 

 

Vor zwei Wochen bin ich von der letzten Reise zurückgekommen. Heute erhielt ich einen Brief von Jungweber. Sie bedanken sich, dass ich mich ihnen für ein ganzes Jahr anvertraut hätte und fragen an, ob ich bereit wäre, bei Werbeveranstaltungen in ihren Filialen und bei befreundeten Reiseunternehmen über meine Erfahrungen zu berichten. „Wir bezahlen Ihnen ein gutes Honorar oder bieten Ihnen ein weiteres Reisejahr zum halben Preis an“.

 

 

Das müsste ich mir überlegen. Zu erzählen hätte ich sicherlich genug. Von der Fahrradtour entlang der jungen Elbe zum Beispiel. Start an einem Schloss im Schwarzwald, dann durch das Elbe-Durchbruchstal mit den weißen Kalkfelsen – Stopp – das war doch die Donau. Bis Ulm und auf den höchsten Kirchturm der Welt. Wien liegt auch an der Donau, aber das war eine andere Reise. Eine hoch gepriesene Kunstausstellung, irgend so ein Maler aus dem 18. Jahrhundert im Louvre, und dort dann auch die Mona Lisa, von Raffael, glaube ich. Aber das war Paris. Da waren wir auch auf dem Eiffelturm. Großartige Aussicht über die Stadt und die Themse. Die berühmte Tower Bridge ging gerade auf und ließ ein Schiff mit hohen Masten durch, als wir auf dem Turm standen. Moment. Jetzt bin ich in London. Da muss ich mir erst meine Fotos vornehmen, damit ich nicht dauernd durcheinanderkomme.

 

 

Einmal waren wir in Leipzig in der Semper-Oper, es gab den Liebestrank von Mozart. Da war auch wieder die Elbe – ach nein, das war Dresden. Prag hat auch so einen breiten Fluss. Ist das die Elbe? Über die Karlsbrücke auf den Wawel, die berühmte Burg mit dem Veitsdom. In Madrid waren wir auch, aber da habe ich gar keine Erinnerung mehr. Es gab ziemlich viele Häuser, aber die gibt es in jeder Stadt, und dann so eine verrückte Kirche zur heiligen Familie mit vielen Türmen, an der immer noch weiter gebaut wird.

 

 

Also, von den Städten kann ich nur erzählen, wenn ich mir vorher eine Powerpoint-Serie machen lasse. Das können die sicher bei Jungweber. Zum Glück habe ich meine Fotos datiert, da kann ich meine Erinnerungen auseinandersortieren.

 

 

Ich habe auch einige Kuren mitgemacht. Das tat gut nach den Anstrengungen der Reisen. Zum Beispiel in Swinemünde und in Kolberg. In Polen ist das nicht teuer, man wird gut betreut und hat Zeit für Spaziergänge. Manchmal gibt es auch ein Kurkonzert. Ich kann die verschiedenen Kurorte nur auseinanderhalten, wenn ich mich an die Kartenspiele erinnere, die wir an den Abenden gespielt haben. In Kolberg hatten wir eine tolle Skatrunde. Die haben mich ganz schön ausgenommen. Einmal haben sie mir Bridge beigebracht, weil sie noch einen Mitspieler brauchten. Das muss in Tschechien gewesen sein, in dem berühmten Bad, wo schon der Goethe immer gekurt hat, Sophienbad glaube ich. Sonst waren die Kurorte fast alle gleich, nur in Büsum hatten wir einen breiten Sandstrand an der Ostsee.

 

 

Am schönsten waren die Schiffsreisen, einmal die Donau von Koblenz bis ins Schwarze Meer rauf und runter. Da gibt es doch so ein berühmtes Kloster, wie hieß das noch? Horn, meine ich, nein doch nicht, aber es hatte irgend etwas mit einer Kuh zu tun. Auf der Mittelmeer-Kreuzfahrt lernte ich eine bezaubernde junge Dame kennen, Stefanie aus Hamburg. Wir standen an der Reling und sahen auf die hohen Felsen auf beiden Seiten von so einem Fjord, und ich hatte schon ganz romantische Gefühle, da kam plötzlich ein älterer Herr, graue Haare, Anzug und Krawatte, legte den Arm um sie und nannte sie „Steffie-Schätzchen“. Eine andere war Österreicherin, das war dann im Mittelmeer, sie hieß Leonie und kam aus Passau. Die war schon über 70, aber sie wollte immer tanzen gehen. Das wurde mir allmählich zu anstrengend.

 

 

Ich weiß nicht, ob ich diese Vorträge bei Jungweber halten soll. Da gerate ich womöglich auch immer auf Abwege und mache mich lächerlich. Wie soll man auch dreiunddreißig Reisen auseinanderhalten, wenn immer eine auf die andere gefolgt ist. Und das ist dann schon peinlich, wenn man die Kleine Meerjungfrau nach Kopenhagen versetzt – doch halt, da gehört sie doch hin – oder die Seufzerbrücke nach Neapel. Das werde ich mir in keinem Fall antun. In Pompeji –

 

 

Das Telefon. Herr Jungweber persönlich. „Haben Sie sich die Sache mit den Vorträgen überlegt?“ Ohne ein Wort zu sagen, warf ich den Hörer auf die Gabel. Da aber mein modernes Telefon keine Gabel mehr hat, fiel es auf den Boden und ging kaputt. Auch gut, da kann mich niemand mehr mit solch unsittlichen Anträgen belästigen.