Tante Annas 85. Geburtstag

 

Von Gisela Hansen

 

 

Das Wetter ist herrlich. Auf den Feldern liegt Raureif. Ich bin um halb 9 morgens auf dem Weg nach Bredstedt. Vetter Nane hat Mutter zum Geburtstag seiner Mutter eingeladen. Seine Mutter, meine Tante Anna, wird 85 und die beiden jungen Frauen haben ein halbes Kriegsjahr unfreiwillig hinter dem Eiderdeich in Reimersbude bei Rotenspieker auf Eiderstedt zusammen gehaust, als Mutter hochschwanger mit mir aus dem zerbombten brennenden Hamburg entkam.

 

 

Den Handelskrug finden wir sofort und da spaziert auch Jacob Voß schon vor unserem Kühler herum. Seine Frau gleich im Gefolge. Jacob hat ein weinrotes Jackett an und macht seinem Namen alle Ehre. Merkwürdig konträr wirkt seine Frau mit ihrer altmodischen Frisur auf mich, ihren Namen kriege ich gerade nicht auf die Reihe. Auf dem Weg sabbelt sie mir ungefragt ihre Kindheit aus Pommern vor. Sie ist ein herumgeschubstes Waisenkind, das niemand mit auf die Flucht nehmen wollte. Ist ja auch Scheiße.

 

Wir vier schleppen uns miteinander in die Gastwirtschaft: Alles fremde Leute, mit denen ich zum großen Teil ersten Grades verwandt bin. Mutter muss auf dem Weg ins Lokal zwischendurch anhalten. Sie geht an einem Stock, die andere Seite übernehme ich.

 

 

Tante Anna – wie immer schön anzusehen, mit sehr weißen Haaren, sieht ihrem Fest mit kindlichen Augen entgegen. Die Kinder haben es vorbereitet und wir sind 30 Geladene. Sieben Kinder hat sie, alle sind hier mit Partnern. Und als wir uns unterhalten, kommt schnell heraus, dass kaum einer seinen ersten Partner behalten hat. Meist haben sie sich neu orientiert, das Ergebnis gesellt sich hier zusammen. Bevor wir an den Esstisch gehen, suche ich die Begegnung mit meiner Cousine Mia, der jeder sofort ansieht, dass sie leidet. Wir rechnen nach: Bei Tante Gretes 85. Geburtstag 1991 haben wir uns zuletzt gesehen. Ich frage, warum unsere Korrespondenz danach nicht richtig in Gang gekommen ist. Sie antwortet kurz: Sie verlor vor vier Jahren ihre Tochter durch eine Überdosis Drogen. Ihr Mann verließ sie nach 30 Jahren Ehe wegen einer jüngeren Frau. Mias Augen schwimmen und schimmern, sie wird damit nicht fertig.

 

Dann kommt Tante Anna an unseren Nebentisch. Sie macht gleich deutlich, dass sie für uns nie gut genug war, weil sie so viele Kinder hatte, damals, als die Zeiten so schlecht waren, im Krieg und danach. Tante Anna sagt, es sei eine schreckliche Zeit gewesen, der Schwiegervater so hässlich und mit nichts zufrieden.

 

- Und er ist immer weiter mit der Petroleumlampe rumgelaufen, sogar als es schon elektrisches Licht gab, nein, so was!

 

Ja, grotesk genug, hier sind sie alle, die 7 Kinder, prächtig aussehend, die Kirschaugen von Tante Anna begegnen mir den ganzen Nachmittag, auch die Enkel gucken kirschig. Und Tante Anna wiederholt seelenruhig, ich war nie gut genug, ich hatte zu viele Kinder. Mutter hört regungslos zu. Stimmt, sie hat uns das immer vorerzählt: Tante Anna kriegt schon wieder ein Kind, - Dann erzählt mir Mia, dass sie seinerzeit als kleine Kinder Verbot hatten, mit uns zu spielen, wenn wir bei Tante Lisa in Rotenspieker zu Besuch waren. Stimmt, ich ging noch nicht in die Schule und muss furchtbar unglücklich bei Tante Lisa gewesen sein, sage ich zu Mia. Ich habe nicht geweint und dafür aber ins Bett gemacht - das sage ich nicht. Tante Lisa hatte auch noch Eltern, jedenfalls erinnere ich mich an einen alten Mann in schwarzen Klamotten, der da mit am Tisch saß und priemte.

 

Es lässt mir keine Ruhe, dies ausgegrenzt werden und selbst andere ausgrenzen. Ist es mir in meiner Herkunftsfamilie nicht oft genug schmerzlich begegnet? Du gehörst nicht dazu – du störst – was du sagst, will keiner hören – am besten sagst du gar nichts – was du immer hast – ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du was richtig machst - ich kann mir gar nicht vorstellen, dass man dich mag – du hast wieder die Hose nass (schnüffel, schnüffel) – was sollen denn die Leute denken?! – so was sagt man nicht – so was denkt man nicht – so was schreibt man nicht - du benimmst dich wie Vati – willst du werden wie Tante Anna?!-

 

Ich habe Schlupflöcher gefunden, nach vielen Jahrzehnten erkenne ich endlich den Mechanismus. Danke Mia, du hast die Tür aufgestoßen. Es war die muffige Zeit der schwarzen Pädagogik in den 40er und 50er Jahren.

 

Mia, Eberhard, Nane, Edelgard, Sigrun, Heiner, Afra. Tante Anna liest immer BasteiRomane und darum kriegen die Kinder so blumige Namen, sagte Mutti uns. Und Eberhard Theves, hört euch den Namen mal an, lauter E-s. Nennt man so sein Kind?! Wir dagegen heißen Gisela, Therese und Laura, das macht sich in Wohlklang und Geschmack. Na, ich weiß nicht so genau, ob Therese Theves nicht auch 4 E-s aufzuweisen hat, nein sogar 5. Ist wohl was anderes, wenn es um uns geht.

 

 

Ich sitze zwischen Mia und Edelgard. Neben Mia sitzt Eberhard und wir müssen uns unendlich viel berichten, wobei ich Edelgard den Rücken zukehre. Das tut mir Leid, aber es geht gerade nicht anders. Es gibt Brokkolisuppe mit Hackklößchen, ganz wunderbar grün, davon ein paar Tassen voll, es hätte als Festessen gereicht. Dann bekommt Nane das Wort. Nane hat alles organisiert, auch die schöne Einladung.

 

 

Und Nane greift in seiner Festrede die Idee auf, dass Jacob ein Vettern- und Cousinentreffen arrangieren solle, am besten im Roten Hauberg, ja, so machen wir das. Ich werde ganz aufgeregt und rufe ja, ja!

 

 

Nane spricht nicht laut, hier ist überhaupt niemand laut. Er ehrt seine Mutter und uns, auch Mutter wird als Schwägerin herzlich willkommen geheißen. Sie sitzt neben Tante Anna und daneben ihre Schwester, der niemand die 80 ansieht. Eberhard sieht seinem Vater ähnlich, Onkel Willy, dem Zwilling meines Vaters. Jacob sieht seinem Vater Onkel Theo ähnlich, Tümlauer Koog. Es steigt mir heiß den Hals hinauf. Und als Nane im Laufe des Nachmittags zu jemandem sagt, das ist meine Cousine, wird es warm in meinem Bauch. Das bin ja ich. Ich bin von jemandem die Cousine, den ich noch nie gesehen habe. Ich bin überhaupt von 7 herrlichen Menschen hier die Cousine

 

Edelgard aus Nortorf, Eberhard aus Büsum, Sigrun aus ?

 

 

Heiner kommt noch rechtzeitig zum Hauptgang mit seinen 3 Kindern und seiner schwangeren Frau, seine beiden großen hat er nicht dabei, sie sind aus der ersten Ehe. Heiner ist ein Hingucker, braun gebrannt, strahlend, ohne Jackett, mit Weste über dem schwarzweiß gestreiften Hemd, mit sehr kurzen Haaren, grau sind sie alle, manche weiß, aber außer Sigrun färben wir Frauen uns die Haare.

 

Tante Anna freut sich, Mia liest auf platt ein schönes Gedicht für ihre Mutter und Sigrun hält auch eine kleine Rede. Sehr verhalten und unendlich zart. Sigrun steht dabei schräg hinter dem Geburtstagskind, das hört nicht mehr so gut und Sigrun muss es wissen. (Stell sich einer das ma vor! Das Kind war immer schwerhörich von der Brüllerei in der Familie, keiner hats gemerkt und erst der Lehrer musste es der Mutter beibringen!) Später gehe ich mal hierhin, mal dahin, sitze da bei den Hauptpersonen.

 

 

Es gibt noch Kuchen. Wir langen ordentlich hin, der Kaffee ist wunderbar.

 

Wir spüren heute unseren Wurzeln nach und haben genug zum Nachdenken auf den Rückweg bekommen. Jacob sagt auf dem Parkplatz noch: Tschüß, mein Deern in dem Tonfall zu mir, der meine Ohren und meine Seele streichelt. O seliges, vertrautes, lange vermisstes Geräusch meiner Kindheit, ein kostbares Wort!

 

 

Liebe Tante Anna,

 

ich danke dir für diesen beglückenden Tag in Oldenswort, den du zu unserem gemacht hast.