Kuriositäten

 

von Sigrid Dobat

 

 

 

Sie lüftet für einen Augenblick ihr Filzhütchen, ein Windzug kühlt die verschwitzten Haare, die straff an den Kopf gekämmt und zu einem kleinen Knoten im Nacken gebunden sind. Der Ausflug durch die Altstadt war anstrengender als gedacht. Sie hatte die Stadt ihrer Kindheit, die Stadt ihres beruflichen Wirkens, noch einmal sehen wollen. Die Schuhe drücken, am liebsten hätte sie sie ausgezogen, aber das erlaubt sie sich nicht.

 

Den größten Teil des geplanten Spazierwegs durch die Stadt hat sie geschafft. Verweilt hat sie kurz vor ihrer alten Schule, in zufriedenem Einvernehmen mit sich selbst. Ein langes Berufsleben war sie durch dieses Schultor gegangen. Täglich, und mit dem unermüdlichen Eifer einer pflichtbewussten Lehrerin für das Fach Deutsch. Liebevoll streicht sie jetzt mit der flachen Hand über die alten Backsteine der Pfosten am Tor. Als sie die grelle Bemalung der Betonwand erblickt, die den Schulhof einfasst, wendet sie sich zum Gehen. Schülermalerei mit Motiven, die sie nicht mag, Zombies und verzerrte Gestalten. Das gehört nicht zu ihrer Schule.

 

Der Bürgersteig ist schmal und die eingelegten Ziegel uneben, sie muss sich konzentrieren, um nicht zu stolpern. Altstadt eben, die schmalen Häuser, handtuchbreit, erinnert sie. Den Süßwarenladen, in dem sie als Kind Bonbons aus Gläsern kaufen konnte, gab es schon zu ihrer Zeit als Lehrerin nicht mehr. Überhaupt, nur noch sehr vereinzelt gab es kleine Lädchen. Sie weiß, die Schaufenster, kaum groß genug, um die Vielfalt der Waren des Geschäftes zu zeigen, dahinter aber lange, schmale Verkaufsräume, vollgestopft mit allem, was das kleine Schaufenster verhieß.

 

Jäh wird ihr Schritt gebremst. Auf dem Bürgersteig steht einer dieser Aufsteller, zwei Plakatseiten, mit Streben verbunden, um die Aufmerksamkeit auf ein Geschäft zu lenken. An den Seiten tanzen Luftballons unruhig, eine Papierschlange streckt hektisch die gespaltene Zunge vor. Dass dieser Aufsteller ihr den Weg versperrt, ist das eine, aber viel mehr gerät sie aus der Fassung über das aufgeklebte Plakat. Große Buchstaben, quer über ein Bild, das sie nicht erkennen kann. Kuriositeten. Mit „e“! Unfasslich, mit „e“! Sie murmelt mit einiger Entrüstung in der Stimme das Wort, so wie es auf dem Plakat steht: Kuriositeten, mit e. Ihre Entrüstung steigert sich, je länger sie auf die großen Buchstaben starrt. Entsetzt wird ihr klar: Kinder werden im Vorbeigehen dieses Wort lesen, dieses falsch geschriebene Wort, und es sich einprägen, ihr Leben lang geprägt sein von diesem falsch geschriebenen Wort: Kuriositeten. „Kuriositäten, Kuriositäten“, stammelt sie und betont wie zur eigenen Bekräftigung das „Ä“. Dabei schwenkt sie ihren rechten Arm wie eine Dirigentin, die den richtigen Zeitpunkt für den Einsatz der Trompete geben will.

 

Kuriositäten. Mit „Ä“!

 

Mit ihrer Verantwortung, die sie deutlich in sich spürt, wird ihr bewusst, dass sie entschieden handeln muss. Sie wird hineingehen und den Firmeninhaber auf diese Unglaublichkeit aufmerksam machen. Sie muss verhindern, dass diese Unmöglichkeit in Form dieses Aufstellers mit dem falsch geschriebenen Wort hier auf dem Bürgersteig ihrer Stadt stehen bleibt. Jegliche Müdigkeit verbietet sie sich, rückt ihr Hütchen gerade und schreitet energisch auf die Eingangstür zu.

 

Ein runder, weicher Holzknauf, einem Handschmeichler ähnlich, an der Ladentür. Sie braucht etwas Überlegung bis sie versteht. Nicht Rütteln hilft, er muss gedreht werden. Es ist ihr etwas peinlich, dass sie gerüttelt hat. Ihre Entschlossenheit ist leicht irritiert und etwas verzögert tritt sie über die Schwelle. Flirrendes Klingeln über ihr, sie schaut nach oben. Zarte Perlmuttplättchen schwingen nach, leise Klänge, sie lauscht. Dann entsinnt sie sich ihrer Aufgabe, entschlossen suchend wandert ihr Blick in den schmalen Raum. Niemand reagiert auf das Türläuten. Ohne Frage aber befindet sie sich in einem Geschäft, Regale, vollgestopft mit Dingen, die sie in ihrer Fülle nicht wahrnehmen kann. Ein Geruch aber dringt in ihre Nase. Sie kann ihn nicht bestimmen, aber er schiebt sich in ihre Erinnerung. Es riecht nach Kindheit, nach vergangener Zeit. Noch kann sie kein Gefühl mit diesem Geruch verbinden, aber sie erkennt ihn wieder, diesen Geruch der Kindheit, der nicht zu bestimmen ist, der alles verheißt und Welten öffnet.

 

Die große Registrierkasse entdeckt sie gleich neben der Tür, den Hebel an der Seite, der das ratschende Geräusch macht und am Ende mit einem hellen „Pling“ die Geldkassette aufspringen lässt, in der unermessliche Reichtümer lagen. Die Hebel auf dem runden Bauch der Kassette blank vom Greifen, sie hört das leise Rattern, bevor die Hebel einrasten. Niemand schiebt den blanken Hebel jetzt, sie hört das Geräusch dennoch.

 

In der Enge der übervollen Regale steht sie unschlüssig, greift in eines hinein, spürt den flauschigen Körper eines Stofftieres in ihrer Hand. Es ist ein Löwe. Sie erinntert sich und gräbt ihre Nase in die Mähne des Tieres. Jetzt erkennt sie. Das ist er, der Geruch der Kindheit. Fein dringt der Hauch von Staub und Stopfwolle in ihre Nase. Sie hatte ihr gespartes Geld gegeben für dieses Tier, damals. Und vielleicht hatte die Geldkassette ihr ratschendes Geräusch gemacht, als sie ihn kaufte. Sie weiß es nicht mehr. Aber es ist ihr Löwe, sie weiß es jetzt. Er war verschwunden eines Tages. Damals, vor langer Zeit.

 

Ein Kind in deinem Alter schläft nicht mit einem Steiff-Tier“, sie hört die scharfe Stimme ihrer Mutter wieder. Die Stimme klingt nach aus längst vergangener Zeit, aber sie hat ihre Härte auch in der Erinnerung nicht verloren. Jetzt ist sie gewiss, er ist zurück, der Löwe, ihr Löwe. Ihre Finger tasten in dem weichen Flausch des Tieres. Sie wird es nicht loslassen. Das Tier wird mit ihr gehen, niemand wird ihn ihr nehmen. Sie stopft den weichen Körper in ihre Handtasche, tief hinein drückt sie das flauschige Tier. Wenn sie es bezahlen wird, wir sie das Ratschen der Geldkassette hören, wie damals.

 

Zwischen den Regalen weiter hinten in dem Laden sieht sie eine Gestalt, von einem bunten Mantel umhüllt. Ein Streichholz reibt, dann hört sie das leise Zischen seiner Flamme und ein leichtes Lachen. Das muss ein Mann sein, der dort steht, obwohl er einen langen Zopf trägt, der weit über den Rücken hinab gleitet. Sie ist irritiert, ein Mann mit einem Zopf. Ein leises Pusten, die kleine Flamme erlischt, so glaubt sie. Der bunte Mantel ist schön. Große, glänzende Blätter, exotische Blüten, Muster wie aus einer anderen Welt.

 

Es kribbelt in ihrer Nase, fast muss sie niesen, sie will nicht niesen. Nebel wabert zwischen dem Mann in dem bunten Mantel und den Regalen. Sie will hinaus, sie spürt einen Schwindel. Für Momente muss sie sich an einem Regal festhalten, sie schließt die Augen. Fest presst sie ihre Handtasche an sich. Der Verschluss der Tasche klickt leise, das beruhigt sie. Ihr Löwe soll bei ihr bleiben, jetzt ist die Tasche geschlossen. Der Mann im bunten Mantel ist fort, als sie die Augen wieder öffnet. Sie muss hinaus, tastet sich an dem Regal entlang. Dort steht der bunte Mantel, gleich neben der großen Registrierkasse. Der Mann lächelt.

 

Sie atmet tief ein. „Da sind Sie ja wieder“, sagt sie, als würde sie einen alten Bekannten treffen. Unsinnigerweise, sie kennt den Mann nicht. Der nickt und lächelt. Und mit ihrer Stimme erreicht sie die Erinnerung. Kuriositäten, ihre Aufgabe dringt in ihr Bewusstsein. Sie muss ihre Aufgabe erfüllen, muss es sagen, dem Geschäftsinhaber sagen. Mit einem „Ä“ wird es geschrieben, der Kinder wegen, die es lesen. Ihre Verantwortung formt sich zu einer Entschlossenheit. Ihre schnellen, wenn auch noch etwas unsicheren Schritte suchen den Ausgang. Im Vorbeigehen will sie es sagen, sie will nicht mit dem Mann im bunten Mantel diskutieren, sie will es ihm nur zurufen im Vorbeigehen.

 

Sie wollen den Löwen bezahlen?“ Die Stimme klingt freundlich, wenn auch etwas spöttisch. Das verunsichert sie. Wenn sie etwas nicht erträgt, dann Spott. Ihr Hut sitzt richtig, der Haarknoten fest, das ertastet sie mit ihrer freien Hand. Die andere Hand hält die verschlossene Handtasche fest an die Brust gepresst. Der Löwe, ihr Löwe! Ihre Stimme klingt spitz und klein als sie antwortet: „Es ist mein Löwe, selbstverständlich bezahle ich ihn.“ Der junge Mann im bunten Mantel lächelt nachsichtig: „Selbstverständlich.“

 

Dann fügt er freundlich hinzu: „Es ist ein schönes, altes Exemplar der Marke Steiff, kaum Gebrauchsspuren, selten zu kriegen. Irgendwann in den 50er Jahren hergestellt, wirklich selten. Sie haben Glück, ihn gefunden zu haben.“

 

Als sie in das Gesicht mit dem Zopf schaut, fallen Tropfen der Erinnerung in ihr Bewusstsein. Dieses Gesicht kennt sie, weiß nicht, woher. Ihre Zunge ist schwer, als sie sagt:“ Es geht nicht, Kinder lesen das: Kuriositäten! Das Wort wird keinesfalls mit einem „e“ geschrieben. Das Gesicht über dem bunten Mantel lächelt freundlich und die Tropfen der Erinnerung überschwemmen sie mit einem Bild aus sehr vergangenen Tagen. Sie erkennt in dem Gesicht des Mannes ein Knabengesicht, sie sieht eine schmutzige Jungenhand, die ungelenk Wörter formt in einem Schreibheft, dessen Linien den Platz für die Wörter bemessen wollen, und sie doch nicht einfangen können. Heiß überschwemmt sie das Bild und sie presst wie zur Bestätigung ihrer Verantwortung hervor:

 

Das „E“ muss ein „Ä“ sein.

 

Ich weiß“, sagt der Mann im bunten Mantel, als die Kasse ihr ratschendes Geräusch macht, „ich weiß, aber dann wären Sie nicht in meinen laden gekommen.“